"Die Hölle von Torgau. Wie ich die Heim-Erziehung der DDR überlebte" von Kerstin Gueffroy

Wie menschlich eine Gesellschaft ist, welche Werte sie vertritt, spiegelt sich am deutlichsten in ihrem Umgang mit den Kindern wider. Liest man das erzählende Sachbuch "Die Hölle von Torgau. Wie ich die Heim-Erziehung der DDR überlebte" von Kerstin Gueffroy unter Mitarbeit von Carsten Tergast, 2015 im Züricher Orell Füssli Verlag erschienen, dann bleiben keine Zweifel über, daß die DDR eine Diktatur war. Nein, sie war nicht nur ein Unrechtsstaat, sie war eine Diktatur, ein Gefängnis für die Einwohner, ein Staat, der erbarmungslos gegen seine Feinde vorging und selbst Feinde in Kindern und Jugendlichen sah.

»In der Regel benötigen wir drei Tage, um die Jugendlichen auf unsere Forderungen einzustimmen.« (Horst Kretzschmar, Leiter des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau, in seiner Diplomarbeit, Quelle: Die Hölle von Torgau, S. 7)

Liest man Kerstin Gueffroys autobiographischen Bericht, dann braucht man starke Nerven. In intensiven Worten und plastischen Bildern erzählt sie, warum sie in den Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau kam, wie ihr Leben, ihr Alltag aussah und welche Überlebensstrategien sie entwickelte, um nicht zu zerbrechen.
Geschlossener Jugendwerkhof. In der immer noch fragmentarischen, ja teilweise sogar verklärten Aufarbeitung der DDR-Geschichte ist diese Einrichtung als dunklester Teil der staatlich gelenkten Erziehungsmaßnahmen in der heutigen breiten öffentlichen Wahrnehmung völlig unbekannt, auch wenn erste Sachliteraturen über die Einrichtungen der politischen Bildung für jeden beziehbar sind. Offiziell war der geschlossene Jugendwerkhof als Einrichtung für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche wie diejenigen mit kleinkriminellem Hintergrund gedacht. Jedoch schnell wurde es für die SED ein Instrument, um auf perfide Art und Weise Widerständler zu brechen. So wurden beispielsweise Kinder und Jugendliche von Ausreisewilligen auch dort untergebracht.

Der geschlossene Jugendwerkhof war das Ende im Heimsystem der DDR. Kinder und Jugendliche von 14 bis 20 Jahre waren dort untergebracht. Mit militärischem Drill, Monotonie, ständiger Ideologisierung, Arbeit, ständige Überwachung und einem perfiden System körperlicher und seelischer Strafmaßnahmen sollte ihr Wille gebrochen werden. Am Ende sollten sie als die DDR-Bürger das Heim verlassen, wie es sich die SED in ihrer Ideologie vorstellte - widerspruchs- und widerstandslose Zustimmung zu Staat und Partei.
Wie grausam und menschenverachtend der Umgang im Alltag war, schildert Kerstin Gueffroy in eindrücklichen Worten. Ihr Buch fängt einleitend mit einer Szene an, in der sie wegen des Singes eines Liedes an den Haaren aus dem Schlafsaal gezerrt und für Stunden in eine Dunkelzelle gesperrt wurde. Kein Licht. Kein Essen. Kein Trinken. Kein menschlicher Kontakt. Gueffroy sollte mit dieser grausamen seelisch-körperlichen Bestrafung zerbrochen werden. Und was war das Lied? Eine Strophe von Petra Ziegers "Der Himmel schweigt".

Wie oft stand schon der Mensch
Am Abgrund seiner Welt
Sah in seinem Leben keinen Sinn
Und hat in seiner Not
Die Götter angeflehtUnd wusste vor Verzweiflung nicht wohin.

In sieben Kapiteln erzählt sie stringent von ihrem Heimleben. Von der Mutter ungeliebt abgeschoben, kommt sie zunächst ins Spezialkinderheim Pretzsch an der Elbe. Als Vorhölle zu Torgau beschreibt sie dort das Leben. Es kam ihr schon damals schrecklich vor, jedoch war es zu Torgau noch "mild". Demütigungen, das Ausspielen der Jugendlichen gegeneinander stand an der Tagesordnung. Mißtrauen gegenüber den anderen Jugendlichen, Bandenbildung prägten sehr. Wärme, Geborgenheit, Vertrauen, Liebe gab es nicht.
Unrechtmäßig wurde Gueffroy von den Erziehern bei einem unerlaubten nächtlichen Ausgang als Anführerin ausgemacht und in das geschlossene Jugendwerkhof nach Torgau abgeschoben. Und dort war wirklich die Hölle. Alles was in Pretzsch bekannt war, erfuhr eine schiere Steigerung. Körperliche und seelische Grausamkeiten der "Erzieher" wie solange Sport treiben, bis ein Mädchen körperlich so erschöpft ist, daß sie in Ohnmacht fällt. Selbst dann tritt der "Erzieher" ihr noch auf die Hand und brüllt sie an. Ärztliche Behandlung erhält sie nicht.
Grausamkeiten der Jugendlichen unter sich schildert sie, die als Ventil für die Gewalt der "Erzieher" und zur Herstellung der Rangordnung dienten. So wurde obiges Mädchen nachts verprügelt. Gueffroy verteidigte sie und wurde selbst mißhandelt. Jeder Jugendliche war sich am nähsten. Hilfe gab es selten. Hier liest man ganz genau, mit welchen Strategien und Maßnahmen man eine Gruppe von Menschen zu Wilden machen kann. Alles, was den Menschen im positiven menschlich macht, gab es nicht oder nur rudimentär. Gleichzeitig wurden alle äußerlichen, formalen Alltagsabläufe wie die seltenen Elternbesuch perfide gewahrt.
Schlußendlich beschreibt Gueffroy, wie mühsam sie nach Torgau ein "normales" Leben zu führen versucht. Am Ende ist es ihr Lebenswille, der sie die Hölle überleben läßt, ihre Kinder, die Liebe zu ihnen. Der Weg bis zur Niederschrift dieses Buches, ja  es selbst, ist ein schwerer, dieses Schicksal zu verarbeiten. Da gehören weitere negative Erfahrungen in Partnerschaften, Therapieversuche und immer wieder das Erzählen über das Erlebte dazu. 
Lebendig, wortgewaltig ist der Sprachstil. Sofort ist man von diesem Buch gefangen. Es ist keine leichte Lektüre, ganz im Gegenteil. Jeder Leser wird mindestens einmal schwer ob der Mißhandlungen, der Verrohung schlucken müssen.
Kerstin Gueffroys "Die Hölle von Torgau. Wie ich die Heim-Erziehung der DDR überlebte" ist nicht nur ein berührender, fesselnder, zeithistorischer, autobiographischer Bericht. Es sollte, nein, es muß gelesen werden, um die DDR als Diktatur zu begreifen. Und es muß ein Bestandteil des Geschichtsunterrichtes und der frei verfügbaren Literatur der politischen Bildung sein. Darüber hinaus dient es als aufrüttelndes Zeichen, mehr für die Opfer der DDR-Diktatur zu tun, sie wahrlich anzuerkennen, ihnen zu helfen, ein normles Leben zu führen.
Kerstin Gueffroy mit Carsten Tergast: Die Hölle von Torgau. Wie ich die Heim-Erziehung der DDR überlebte
Orell Füssli, Zürich 2015
ISBN: 978-3280055939

Ausstattung: 224 Seiten
Preis: 19,95 €


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Kommentare

  1. Herzlichsten Dank für diese Emotionale und intensive Rezension. Sie sind in das Buch eingetaucht was selten jemand macht und haben sich mit dem Thema beschäftigt. Ich danke Ihnen von ganzen Herzen.
    Herzlichst Kerstin Gueffroy

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