Rezension: "Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken" von Remo H. Largo

Der Schweizer Kinderarzt Remo H. Largo, der bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Kinderheilkunde war und fast drei Jahrzehnte die Abteilung Wachstum und Entwicklung des Kinderspitals Zürich leitete, beschäftigte sich seine ganze Zeit als Pädiater und Wissenschaftler mit der Entwicklung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen. Die Ergebnisse seiner Langzeitstudien machte er einem breiten Publikum in seinen Büchern "Babyjahre", "Kinderjahre", "Schülerjahre" und "Jugendjahre" zugänglich. Dabei zeigt er in seinen Publikationen auf, wie individuell die Entwicklung eines Kindes ist, zeigt, welche Spannbreite an Fähigkeiten und Fertigkeiten bei gleichaltrigen Kindern vorliegen kann und gleichzeitig als völlig normal gilt. Er will so Eltern und Pädagogen die Vielfalt der kleinen Persönlichkeiten aufzeigen, den Druck vor Abnormitäten nehmen und den Erwachsenen mehr Mut, Zuvertrauen und Gelassenheit geben. Seine Sichtweise ist immer kindbezogen. Er hat das Kind als Individuum mit ganz eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Blick. Er gilt damit als Vorreiter für Autoren wie Herbert Renz-Polster, die das Kind von der (evolutionsbasierten) Entwicklungsperspektive her sehen.
In dem Taschenbuch "Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken", das 2012 im Piper Verlag und zwei Jahre zuvor bei der edition Körbe-Sstiftung erschienen ist, nimmt Largo Bezug auf die vielen Erziehungsratgeber, die seit einigen Jahren einen Boom erleben. Er will mit dem Buch seine Sichtweise auf Erziehung und Bildung geben, die - wie der Untertitel es andeutet - vom Kind und seiner individuellen Entwichklung ausgeht. Es ist eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse aus mehreren Jahrzehnten Forschung in dem Bereich Kindsentwicklung, die sowohl auf Erziehung im Elternhaus als auch auf Bildung in der Schule fokussiert ist. Dabei will Largo deutlich machen, wie beide Bereiche miteinander verschränkt sind, daß Erziehung Teil der Lehrerarbeit ist, wie eben auch Bildung Teil der elterlichen Erziehung. Sie gehen Hand in Hand. Largo richtet sich also an beide Lesergruppen als Adressaten, auch wenn die Schule am Ende überwiegt.
In zwei Teile und einem längeren Einführungskapitel untergliedert Largo sein Buch. Zunächst macht er deutlich, in welcher Umbruchszeit Bildung und Erziehung heute steckt. War bis vor zwei Generationen eindeutig und nicht diskutiert, wie Kinder erzogen werden sollen und was der Bildungskanon ist, so ändert es sich mit dem Eintritt in die Dienstleistungsgesellschaft grundlegend. Vieles wird in Frage gestellt, es gibt so viele Antworten, die in ihren gegensätzlichen Aussagen Eltern und Lehrer verwirren. Zudem sind die Gesellschaftsbereiche Wissensvermittlung und Arbeit ebenfalls im Umbruch. Ein absolviertes Studium ist keine Garantie für einen sicheren Arbeitsplatz bis zum Ende des Erwerbslebens. Das Einführungskapitel faßt die Stimmungen zu Bildung, Erziehung, Kultur und Arbeit prägnant auf.

Im ersten Hauptkapitel "Charakteristiken der kindlichen Entwicklung" spielt Largo sein ganzes Wissen aus. Hier merkt man sofort seine langjährigen Erkenntnisse aus der Forschung. Immer wieder zeigt er mit kurzen Beispielen auf, wie individuell Kinder sich entwickeln, so beispielsweise beim Sprechen, Laufen oder auch später bei der Lesekompetenz. Zudem erklärt er gut, wie Kinder lernen: aus sich selbst heraus, wenn sich das individuelle Zeitfenster für den Entwicklungsschritt öffnet, aus eigenem Antrieb und Neugierde, durch Ausprobieren, Üben und durch das Nachahmen von Vorbildern. Bei letzterem spielen Eltern, aber vor allem ältere Kinder eine wichtige Rolle. Kinder sind für andere Kinder die besten Lehrmeister. Ausdrücklich weist Largo darauf hin, daß es ein Zeitfenster für Entwicklungsschritte gibt. Fängt man als Erwachsener zu früh an, dem Kind eine bestimmte Entwicklung anzutrainieren, ist es überfordert und verweigert sich. Verweigert man im Zeitfenster die Möglichkeit des Ausprobieren, ist man dann zu spät, ist es unterfordert und frustriert. Beides führt zu auffälligem Verhalten. Es ist also von Bedeutung, das Kind genau zu beobachten und den rechten Moment zu erkennen, ihm dann entsprechende Angebote zu machen. Dies gilt für Eltern als auch für Erzieher.
Desweiteren spielt die Motorik für Kinder bis weit ins zweite Lebensjahrzehnt eine wichtige Rolle beim Aneignen von Wissen. Kinder erfahren, erspüren in der Bewegung neue Fähigkeiten und Fertigkeiten.
Darüber hinaus sind Geborgenheit, Liebe, Wertschätzung des Kindes an sich unabhängig vom Verhalten und geschenkte Zeit wichtige Grundpfeiler für eine gute Beziehung zum Kind. Erst mit einer guten Beziehung kann Erziehung und Bildung gelingen. Ja, dies erfordert viel Zeit und Aufmerksamkeit von den Kindern. Jedoch hat die Natur ihnen auch eine gewisse Robustheit mitgegeben. Eltern und Pädagogen dürfen Fehler machen, müssen nicht perfekt sein, wenn die oben genannten Rahmenbedingungen generell gegeben sind. Hier ist Remo H. Largo ganz bei den Aussagen von Jesper Juul.
Im zweiten Hauptkapitel fragt Largo, wie Bildung und Erziehung kindgerecht sein soll. Hier wendet er seine Erkenntnisse aus dem ersten Kapitel an, hält sie als Schablone vor die praktische Wirklichkeit. Dabei regt er an, über viele Gegebenheiten nachzudenken: eine qualitätsvolle frühkindliche Betreuung als Möglichkeit für Klein- und Kindergartenkinder Kontakt zu Gleichaltrigen zu bekommen, was früher die Großfamilie und der ständige Kontakt zu den vielen Nachbarskindern war, die Länge der Schulstunde als zu lange Zeitspanne fürs Stillsitzen (s. Motorikverhalten), die Tendenz zu den Fachlehrern, die kaum eine Beziehung zu ihren Schülern aufbauen können, die Größe und Heterogenität der Klassen, der Arbeitsaufwand und die verfügbare Zeit für Lehrer, die Auswahl der Lehramtstudenten, der Drang von Politik, Gesellschaft und Eltern, möglichst viele Kinder zum Abitur zu führen, unabhängig ihrer individuellen Fähigkeiten. Es sind gute Gedanken, die zum Nachdenken und Umdenken anregen.
Largo macht zwei Punkte fest: in Westmitteleuropa sind wir wahrscheinlich hinsichtlich der Intelligenzsteigerung der Bewohner insgesamt am oberen Ende. Mehr geht wohl nicht. Wichtiger als zu viel Kraft, Energie und Geld für eine nicht machbare Steigerung einzusetzen, ist die Eröffnung von individuellen Entfaltungen der Kinder nach ihren eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Es ist besser, ein normal begabtes Kind mit handwerklichem Geschick geht einem Handwerksberuf nach, als ihn zu einem theorielastigen Studium zu zwingen. So wird das Kind unglücklich, die Eltern auch, die Lehrer sind genervt und der Gesellschaft an sich bringt es nichts. Wir brauchen mehr individualisierten Unterricht, mehr Beobachtungen und Zeit für Kinder.
Wir Erwachsenen sollen die Kinder mehr wertschätzen und ihnen mit Demut begegnen. Sie sind keine formbare Masse, die wir als Eltern und Pädagogen nach unseren Wünschen formen und instrumentalisieren können. Nein, sie sind eigene Persönlichkeiten, die wir auf ihrem Weg begleiten.
Remo H. Largo hat mit seinem Essay, ja fast Streitschrift "Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken" eine wunderbare Anregung zu Bildung und Erziehung für Kinder geschaffen, die in jeder Zeile das Kind wertschätzt, ihm mit Respekt begegnet. Hier kommt das ganze Wissen seines beruflichen Schaffens zur Geltung, aber auch seine tiefen Erkenntnisse darüberhinaus, seine Altersweisheit, die uns zu mehr Gelassenheit aufruft. Lesen Sie das Buch, lassen sie sich inspirieren und zum Nachdenken anregen. Sie sehen Kinder dann mit anderen Augen.

Remo H. Largo: Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken
Piper Verlag, München 2012
ISBN: 978-3492274111
Ausstattung: 192 Seiten
Preis: 8,99 €

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